Das Talent der Menschlichkeit
So viele Eindrücke habe ich aus dem Abend des 18.09.2021 und dem Theaterstück "Unsere Klasse" des Ensemble Integral mitgenommen. Wo fängt man da an?
Das Thema von Antisemitismus, Krieg und Gewalt, Selbstbestimmtheit, Glaube und Verrat ist aktueller denn je. Dargestellt in dieser Geschichte in 14 Lektionen, wie eine erschreckend reale Unterrichtseinheit aus menschlichen Abgründen und einer verwobenen Geschichte, Einzelschicksalen und einer Thematik, die nie leicht zu verarbeiten ist, aber in meinen Augen in genau solcher Form, dem Theater, in die Köpfe von Menschen gehört.
Die Geschichte der polnischen Schulklasse, früher einmal vereint durch jugendliche Naivität, Gefühle und den Spaß am Leben; später getrennt durch den 2. Weltkrieg, durch plötzliche Bedeutsamkeit von Unterschieden und die Frage nach der eigenen Moral.
Eine Vermutung der Regisseurin, warum das Stück solche Schwierigkeiten hat in Deutschland Fuß zu fassen: man könne Applaus aus der rechtsgesinnten Ecke ernten; einerseits ein nachvollziehbarer Gedanke, andererseits beinahe lächerlich hinsichtlich dessen, wieviel schwerer die Unmenschlichkeit hinter den Verbrechen wiegt als die Frage danach, wer sie begangen hat.
Grausam also zu sehen, was Menschen einander antun können, verwirrend sich zu fragen warum und merkwürdig faszinierend sich vorzustellen, wie sehr und schnell Menschen sich verändern können.
Die Inszenierung außergewöhnlich in mehrerlei Hinsicht. Ein beinahe spartanisches Bühnenbild, das aber doch alles bot, um darzustellen, was es brauchte; ein Wechsel zwischen Figuren-Dialog und Erzählung in Richtung der vierten Wand, der das Stück kurzweilig werden ließ; Worte, Geräusche und impulsive Gesten, die eine reale Darstellung überflüssig machten, tat die Vorstellungskraft allein doch ihr übriges zu den Dingen, die zwar rabiat wirkten, aber letztlich gesagt werden mussten; ausdrucksstark, laut, ehrlich, so sehr, dass es zum mitfühlen bewegt, dazu, genauso zu hassen, genauso zu lieben und zu trauern und zu fürchten.
Um auch nach dem Epilog, als die Geschichte jeder einzelnen Rolle auserzählt und der letzte Geigenton verklungen war, eine kurze bedeutsame Stille zu hinterlassen, die endete mit den stehenden Ovationen der Zuschauer:innen.
Herausgeholt aus der Bedrückung der Thematik wurde man durch das echte Lächeln der Schauspieler:innen beim Abschlussapplaus, das Publikumsgespräch, in dem sich Darsteller:innen wie Zuschauer:innen emotional offen und ehrlich austauschten, und nicht zuletzt die noch tiefergehenden Einzelgespräche an der kalten Nachtluft, die vorallem diese Erkenntnis hervorbrachten: Hinter dieser deutschen Erstaufführungen stehen eine mutige Regie und Öffentlichkeitsarbeit, ein engagiertes Team, monatelange Vorbereitung, ein starke emotionale Arbeit und nicht zuletzt ein Ensemble aus sagenhaft talentierten jungen Leuten - talentiert in Schauspiel, Musik und Menschlichkeit.